Joi Ito: State of Emergent Democracy

Einer der Höhepunkte des 21C3: Weblogger-Legende Joi Ito hielt seinen Vortrag »State of Emergent Democracy«, auf Deutsch etwa »Zum Status der emergenten Demokratie«. Als emergent bezeichnet man übrigens ein Etwas, das aus einer Vielzahl kleiner Dinge oder Aktivitäten entsteht und im Resultat zusammen mehr als die Summe seiner Einzelteile ist.

Joi Ito begann mit einem Rückblick auf das Jahr 2002. Damals stellte er fest, dass die japanische Demokratie irgendwie kaputt war. Jemand machte ihn darauf aufmerksam, dass das eigentlich mehr oder weniger für alle Demokratien gilt. Joi sah das ein, und als Konsequenz daraus begann er zu bloggen, oder, wie er heute in seinem Vortrag sagte: »I was thinking about to fix democracy.« Einen Begriff von Ross Mayfield aufgreifend, formulierte Joi das Konzept der Emergent Democracy.

Als er den Text in sein Wiki stellte (Joi Ito schlug damit einen Bogen zu einem anderen 21C3-Vortrag von Wikipedia-Gründer Jimbo Wales), war es nicht mehr nur sein Papier, sondern es entwickelte ein Eigenleben. Viele beteiligten und bearbeiteten es, Zitat Joi Ito: »It's not a paper, it's a place!«

Eines der fundamentalen Prinzipien der Emergent Democracy ist: Es geht nicht nur um das Recht zu wählen, das Recht auf Freiheit der Rede und Meinung ist mindestens ebenso wichtig. Dieses Recht ist nach Joi Itos Meinung derzeit in Gefahr! Er führte dazu das Beispiel einer »linken« japanischen Zeitung an: Hat man diese abonniert, erhält man in keinem der großen japanischen Unternehmen mehr einen Job!

Einige Leute aus dem Umfeld der Emergent Democracy wurden bekanntlich Berater des amerikanischen Beinahe-Präsidentschaftskandidaten Howard Dean, das war der erste Ausflug der Operation fixing democracy in die reale Welt. Dean scheiterte in den Vorwahlen. Trotzdem zeigte die Dean-Kampagne, wie man mittels Internet Geld sammeln kann, und wie man eine Mobilisierung über das Netz erreichen kann. Und sie zeigte, dass, um politisch in der realen Welt wirksam zu werden, die Emergent Democracy-Bewegung die Barriere zwischen den Blogs mit ihrem freien Austausch von Meinungen und dem Macht- und Meinungskartell der alten Medien und der sie tragenden Oberschicht überwunden werden muß. Letztendlich scheiterte Dean an den alten Medien!

Überhaupt, Weblogs, sie sind für Joi Ito zentraler Bestandteil der Erneuerung des demokratischen Diskurses. Joi vergleicht Weblogs in ihrer Rolle als Träger freier Meinungsäußerung und Diskurs mit Ameisen: »One ant is not so smart, but has a specific program.« Und aus der Gesamtheit der »Ameisenstimmen« entsteht etwas: Eine »sophisticated geometry like in an ants' colony«.

Die nächsten drei Jahre werden entscheidend sein, was die freie Rede im Internet angeht. Joi Ito unterstützt daher Organisationen wie ICANN, um den Zugriff jener Organisationen auf das Internet zu vermeiden, die ein Interesse an wirtschaftlicher Kontrolle und Eindämmung der Redefreiheit (Freie Rede ist immer gefährlich für diejenigen, die die Macht inne haben) haben. Wenn jeder Blogger 3% seiner Leser »infiziert«, selbst zu bloggen und »Ameise« zu werden, und dann wieder 3% infiziert, dann entsteht eine virale Bewegung, die irgendwann so groß ist, dass sie nicht mehr ignoriert werden kann, oder, um in Joi Itos Gedankenwelt zu bleiben: Vor dem Fenster des Elfenbeinturms sehen sie den Ameisenbau entstehen!

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# Ralf Graf, 29.12.04, 13:46 Uhr.