Jimmy Wales: Wikipedia Sociographics
Weitaus spannender ist der anschließende Vortrag von Jimmy »Jimbo« Wales (Wikipedia). Wikipedia Sociographics: What the wikipedia community doesn't know about itself. Wales, Wikipedia-Gründer und Vorsitzender der Wikipedia-Foundation, erläutert die soziale Dynamik des Wikipedia-Projekts anhand einprägsamer Anekdoten und einer Menge interessanter Statistiken und Details über die Wikipedia-Community.
Die Wikipedia-Foundation ist eine Non-Profit-Organisation. Das »Big Picture«, so Wales, inspiriere und motiviere die Community: Wikipedia habe (im Gegensatz zu Brockhaus oder Encyclopaedia Britannica) den Anspruch, eine freie Enzyklopädie für jeden Menschen in seiner eigenen Sprache anzubieten.
Erfolgsfaktoren für die schnell wachsende Beliebtheit der Wikipedia: Jeder kann mitmachen, jeder kann Inhalte einpflegen und somit ein Teil der Enzyklopädie sein. Dabei wird besonders der Free-and-Open-Source-Charakter betont: Alle Inhalte fallen unter die GNU Free Documentation License. (Laut alexa.com ist die Wikipedia mit ihren über 400 Millionen monatlichen Pageviews populärer als IBM, Geocities, Paypal oder das Open Directory Project.)
Aktuell enthält die Wikipedia 412.000 englische Artikel und 172.000 Artikel auf deutsch. Ganz stark kommt Japan mit derzeit 87.000 Artikeln. 19 Sprachen (jeweils mindestens 10.000 Artikel) sind in der Wikipedia vertreten.
Auch die Projekte mehren sich. Neben der klassischen Wikipedia-Enzyklopädie erfreuen sich auch andere Projekte steigender Beliebtheit: Neben Wiktionary, Wikibooks, Wikiquote und Wikispecies sind WikiMedia Commons und Wikinews die jüngsten schnellwachsenden Projekte.
Dabei bedienen sie sich alle derselben Wikipedia-Community-Prinzipien, was Jimmy zu der Frage nötigt: Can content be trusted? Schön zu sehen ist hier, inwieweit die Wahl der Server, Software und Lizenzmodelle Einfluss auf die Selbstregulierung hat: MediaWiki bringt Qualitätssicherungs- und Kontroll-Features mit sich, Review-Prozesse und Post-Moderation erweisen sich als hoch reaktionsfreudig, die freien Lizenzen erlauben es Usern, Beiträge gegenseitig zu bearbeiten, zu verändern und zu erweitern.
Ein weiterer Aspekt ist die Wahrnehmung der Wikipedia-Community sowohl innen als auch außen. Wales spricht von einem Zwei-Perspektiven-Modell: auf der einen Seite sieht man die Wikipedia als das plötzlich auftauchende, entstehende Phänomen (Pseudo-Darwinian), auf der anderen Seite betrachtet sich die Gemeinschaft als eine »community of thoughtful users«.
Wales zieht die zweite Perspektive der ersten vor. Das »emergent phenomenon« besteht aus tausenden von Usern, die sich alle nicht kennen und jeder einen kleinen Teil zum ganzen beitragen. Im zweiten Modell hingegen gibt es nur wenige hundert User; die arbeiten jedoch sehr eng miteinander.
Und so bestätigt sich auch für Wales' Wikipedia die altbekannte 80/10-Regel: Zehn Prozent aller User verantworten 80 Prozent aller Edits. Nur eingeloggte User, eine Kerngruppe von ca. 700 Leuten, wurden hier gezählt; fünf Prozent machen 66 Prozent, und nur 2,5 Prozent nehmen die Hälfte aller Bearbeitungen vor. Auch von anonymen Rechnern aus kann editiert werden: Rund 18 Prozent aller Edits kommen von anonymen Usern. Dabei ist der Troll-Anteil niedriger, als gemeinhin angenommen wird.
Noch mehr Zahlen über Wikipedia-Edits: Zu 85 Prozent werden Artikel bearbeitet, Talk-Pages kommen auf nur überraschende acht Prozent, User-Pages auf drei und User-Talk-Pages auf vier Prozent.
Wie funktioniert die Community? Wer sind die User? Wie regulieren sie sich selbst? Wales entwirft eine bildhafte Typologie von Sozialtypen, Trolltypen, Artikel, Versicherungs- und Richtertypen, die sich gegenseitig beeinflussen. Darunter gibt es wieder Arbeitsbienen, Generalisten und Spezialisten (oder Motten zum Flamen, wobei Motten nicht unbedingt gemeierweise geflamet werden; manchmal sei das positiv, um kontroverse Diskussionen zu konstruktiven, qualitativ besseren Ergebnissen zu bringen). Und natürlich die Unterschiede zwischen den Nationen: Japaner diskutieren einen Artikel bis ins kleinste Detail, bevor sie etwas daran ändern. In den USA scheint es entgegengesetzt zu funktionieren: Erst ändern, dann diskutieren.
Nicht zuletzt bleibt ein hoffnungsvolles, optimistisches Fazit: »Different people come to Wikipedia with different motivations«, sagt Wales. Die große Herausforderung sei es, die Community stabil zu halten: nicht nur durch tolle Software Features und coole Technik, sondern vor allem mit ehrgeizigen, guten Leuten, die Reputation und Selbstbeweihräucherung nicht nötig haben. Und auch »through an atmosphere of love and respect. Artificial karma points and things like this are not needed. We don't need magic.«